Sonntag, 14. Mai 2017

Rezension: Ich, Eleanor Oliphant von Gail Honeyman

© Bastei Lübbe Verlag
Im Grunde tun schöne Menschen mir leid. Schönheit muss eine permanente Herausforderung sein, nicht zuletzt, da sie von Beginn an immer schon im Schwinden begriffen ist, ewig vergänglich. Wie quälend, wie zermürbend ich mir das vorstelle. Selbst wenn man noch im Vollbesitz seiner Reize ist, muss ständig dieser Druck auf einem lasten, allen zu beweisen, dass man mehr als nur sein Äußeres zu bieten hat. Es ist bestimmt nicht leicht, nie genau zu wissen, ob man um seiner selbst willen geliebt wird oder doch nur seines perfekten Körpers wegen, der strahlend grünen Augen oder der seidig schimmernden Löwenmähne. Wie bringt man andere dazu, hinter die Fassade zu sehen? Und beginnt es einen nicht irgendwann zu langweilen, wenn man sich nie anstrengen muss? - Seite 44-45

Inhaltsangabe: 
Eine Herausforderung, gewiss, aber so schwer konnte das ja nicht sein. Raymonds Worte hatten mich wirklich ermutigt. Und jemand, der die Aeneis skandieren und Excel-Tabellen mit Makros formatieren konnte, der seine letzten neun Geburtstage sowie Weihnachten und Silvester allein verbracht hatte, würde es wohl auch schaffen, ein festliches Weihnachtsessen für dreißig Leute mit einem Budget von zehn Pfund pro Kopf zu organisieren. Eleanor Oliphant ist anders als andere Menschen. Eine Pizza bestellen, mit Freunden einen schönen Tag verbringen, einfach so in den Pub gehen? Für Eleanor undenkbar! Und das macht ihr Leben auf Dauer unerträglich einsam. Erst als sie sich verliebt, wagt sie sich zaghaft aus ihrem Schneckenhaus – und lernt dabei nicht nur die Welt, sondern auch sich selbst noch einmal neu kennen.

Was vergangen ist, ist längst nicht vergessen, die Vergangenheit verfolgt uns, das Gestern geht immer weiter. Heute, morgen, übermorgen. Bis zum bitteren Ende. - Seite 183

Meine persönliche Meinung:
Dieses Buch ist mit einem Cover geschmückt, nach dem ich in einer Buchhandlung sofort greifen würde, wenn es nicht schon vorab in meinem Briefkasten gelegen hätte. Schon allein der Titel, der Name einer jungen Frau, zog mich magisch an. Wer war Eleanor Oliphant? Und was hat es mit ihr auf sich? Das wollte ich wissen und fing somit sofort zu lesen an, ohne irgendwelche Erwartungen oder Hoffnungen an diese Geschichte. Der Klappentext ließ mich aufhorchen und ich ahnte, dass mich hier eine ganz besondere Protagonistin erwarten wird. Eleanor Oliphant ist anders und genau das mochte ich so sehr.

Es braucht Zeit, über einen solch schweren Verlust hinwegzukommen, so man es denn überhaupt schafft. Es sagt sich so einfach, dass das Leben weitergehe. Gewiss, das tut es, aber den Verlust und den Schmerz schleppt man mit. Ich weiß, wovon ich rede. Auch nach all den Jahren ist es noch immer ein fortlaufender Prozess, Ende offen. - Seite 319

Auf den ersten Seiten merkt man sofort, dass Eleanor ein sehr einsames und zurückgezogenes Leben führt. Sie geht in die Arbeit, wo sie sich ebenfalls nicht wohl fühlt. Sie erledigt ihre Aufgaben gewiss, ist aber stets wieder froh, wenn Freitag ist und das Wochenende vor der Tür steht. Fürs Wochenende kauft sie sich ihre zwei Flaschen Vodka sowie ihre Fertigpizza und gräbt sich zu Hause ein. Montags beginnt die Woche wie immer ganz normal von vorne. Freunde hat sie keine. Mit ihrer Mutter hat sie Probleme - mehr als ein Telefonat pro Woche verbindet die beiden nicht. In diesen Gesprächen werden auch keine liebevollen Worte ausgetauscht. Eigentlich mögen sich die beiden überhaupt nicht und das hat auch einen Grund. Eleanor trägt Narben, innerlich wie äußerlich. Ihr Leben nimmt eine Wendung, als sie eines Tages mit ihrem Arbeitskollegen Raymond gleichzeitig die Arbeit verlässt. Sie kommen ins Gespräch und gehen ein Stückchen zusammen, als vor ihnen ein fremder Mann zusammenbricht und bewusstlos ist.

Doch wie ich bei meinen teilnehmenden Beobachtungen bald feststellen sollte, beruht sozialer Erfolg immer auch auf kleinen Täuschungsmanövern. Will man beliebt sein und Freunde haben, muss man bisweilen über Dinge lachen, die man nicht witzig findet, Dinge tun, auf die man eigentlich keine Lust hat, oder sich mit Leuten abgeben, die einen im Grunde langweilen. Für mich undenkbar. Und so hatte ich mit elf Jahren beschlossen, allein zurechtzukommen. Wenn nur die Wahl bestand zwischen faulen Kompromissen oder Alleinsein, würde ich eben allein bleiben. So war es ohnehin besser, sicherer. Sich bloß nie wieder zu sehr an einen Menschen binden. Es heißt, Trauer und Schmerz seien der Preis, den wir für die Liebe zahlen. Unterm Strich keine gute Rechnung. Der Preis ist immer zu hoch. - Seite 321

Für Eleanors Verhalten gibt es Gründe, die nach und nach ans Licht rücken. Schnell wird einem klar, dass es in ihrer Vergangenheit ein Ereignis gab, dass sie stark geprägt und sie bis heute verdrängt hat. Ihr psychischer Zustand kippt auf einmal ganz rapide und sie ist auf professionelle Hilfe angewiesen. In diesem Buch bekommen wir einen starken Kontrast zwischen sehr ernsten Themen und sehr lustigen Situationen mit Eleanor geliefert. So düster und schwermütig einem diese Geschichte anfangs vorkommt, so lebensbejahend und kraftvoll entwickelt sie sich. Es ist eine Geschichte, wie das Leben sie wirklich geschrieben haben könnte.

Wenn man gefragt wird, wie es einem geht, scheint der Konsens zu sein, dass man GUT antwortet, unabhängig von seinem tatsächlichen Befinden. Alles ist GUT, auch wenn man sich vorige Nacht in den Schlaf geweint und seit zwei Tagen in Folge mit keiner Menschenseele gesprochen hat. Aber das wäre die falsche Antwort. So etwas sagt man nicht. GUT, so heißt das. - Seite 370

Ich mochte Eleanor so so gerne. Vor allem mochte ich sie umso mehr, als ihr Leben eine Wendung nimmt und sie der Einsamkeit den Kampf ansagt. Ihre Geschichte ist so einzigartig und unvergesslich. Ihre erfrischend schräge Sicht auf die Dinge zeigt uns, was im Leben wirklich zählt: Liebe, Hoffnung, Ehrlichkeit. Aber vor allen Dingen die Freundschaft. Sie hat in Raymond einen richtig guten Freund gefunden, der sie als Person verändert und aufleben lässt. Eleanor Oliphant hat die Liebe gesucht und sich dabei selbst gefunden. All die anderen Charaktere sind von Anfang an etwas gewöhnungsbedürftig, aber durchaus liebenswürdig.

Gleichwohl sind öffentliche Bibliotheken selbstredend wunderbare Orte, die erheblich zur Lebensqualität breiter Bevölkerungsschichten beitragen. Oder, um es mit einem weit verbreiteten Bonmot zu sagen: Es liegt nicht an euch, liebe Bibliotheken, es liegt an mir! Allein die Vorstellung, durch wie viele ungewaschene Hände diese Bücher schon gegangen sind, wie viele Menschen das Buch in der Badewanne gelesen haben, im Bett, ihre Hunde darauf haben sitzen lassen, es mit Chips-, Wurst- oder Schokoladenfingern angefasst haben, oder - schlimmer noch und anscheinend eine sehr beliebte Unsitte - beim Lesen in der Nase gebohrt und nachfolgenden Lesern ein zwischen den Seiten klebendes Nasensekret beschert haben. Wi-der-wärtig. - Seite 434

Ein Schreibstil, der zu fesseln weiß. Gail Honeyman hat uns hier ganz tolle, leicht zu lesende 530 Seiten beschert. Wie schön, dass ich als Leserin Eleanor so lange begleiten durfte. Ich kann dieses Buch wirklich nur in höchsten Tönen loben und an all jene weiterempfehlen, die gerne emotionale und tiefgründige Literatur lesen. Eine Geschichte, die mich sehr nachdenklich gestimmt hat, aber auch so begeistern konnte. Ich würde mich riesig freuen noch mehr von Gail Honeyman lesen zu dürfen. 

"Das Problem", fuhr ich fort, "ist, dass sie trotz allem Mummy ist. Sie ist ein schlechter Mensch und hat Schlimmes getan, aber eine andere Mutter habe ich nicht. Töchter lieben ihre Mutter." - Seite 486


  • Gebundene Ausgabe: 528 Seiten
  • Verlag: Bastei Lübbe (Lübbe Ehrenwirth) (24. April 2017)
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-10: 3431039782
  • ISBN-13: 978-3431039788
  • Vom Hersteller empfohlenes Alter: Ab 16 Jahren
  • Preis: 20€ (D) - 20,60€ (A)

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